Opfer von Boko Haram in Nigeria

Wo Witwen ein neues Leben beginnen

Renate Ellmenreich sitzt im nigerianischen Witwendorf von Widows Care mit Frauen vor der Schulküche.
Renate Ellmenreich sitzt im nigerianischen Witwendorf von Widows Care mit Frauen vor der Schulküche. © Rebecca Hillauer
Von Rebecca Hillauer · 28.01.2018
Durch die Terrormiliz Boko Haram haben Tausende Frauen in Nigeria ihre Ehemänner verloren: Als Witwen haben sie kaum Rechte und wenig soziales Ansehen und haben oft selbst schreckliche Gewalt erfahren. Der Verein Widows Care versucht, ihnen zu helfen.
Zum Witwendorf gelangt man über eine sandige Straße mit tiefen Löchern. Von Abuja, der nigerianischen Hauptstadt, fährt man mit dem Auto eine gute Stunde.
Nahe dem Dorf Gurku hat Renate Ellmenreich, eine pensionierte Pfarrerin aus Joachimstal bei Berlin, eine Zufluchtsstätte für Frauen errichtet. Frauen, die durch die Terrorgruppe Boko Haram zu Witwen geworden sind und aus ihren Heimatdörfern im Nordosten des Landes geflohen sind:
"Unser Ansatz ist, dass wir Frauen ermächtigen wollen, völlig selbstständig zu leben. Das ist was Neues. Frauen leben bisher nicht allein, selbstständig, sondern hängen immer ab – entweder vom Mann oder von der Familie. Oder im Notfall, wenn sie keine andere Unterstützung haben, von der Prostitution."

Einschulung der Kinder ist Pflicht

Im Witwendorf erhalten die Frauen die Möglichkeit, ein Handwerk zu lernen, um sich und ihre Kinder zu unterhalten - und um das Schulgeld für die Kinder zu bezahlen. Die Frauen müssen alle ihre Kinder einschulen. Das ist eine Bedingung dafür, dass sie im Witwendorf wohnen dürfen. Viele können selbst kaum lesen und schreiben. Die meisten sind Bäuerinnen, haben in der Umgebung ein kleines Stück Land gepachtet oder verdingen sich als Erntearbeiterinnen.
Renate Ellmenreich vor dem Gästehaus: Mit neun Pfarrerinnen gründete sie nach ihrer Pensionierung den Verein Widows Care.
Renate Ellmenreich vor dem Gästehaus: Mit neun Pfarrerinnen gründete sie nach ihrer Pensionierung den Verein Widows Care.© Rebecca Hillauer
Renate Ellmenreich geht durch das Dorf, in dem zur Zeit 35 Witwen und mehr als hundert Kinder leben. Alle grüßen sie: "Sannu!" Hallo! "Ina gwana?" Wie geht es dir? "Lafiya"! Gut.
Drei Frauen sind gerade dabei, unter einem Baum frisch geerntete Bohnen von der Spreu zu trennen. Sie halten Plastikschüsseln mit Bohnen neben ihre Köpfe und schütten sie dann langsam aus. Der Wind weht die leichte Spreu davon, die Bohnen fallen auf einem Haufen zu Boden. Die Frauen füllen sie erneut in die Schüssel, heben sie hoch, leeren sie - solange, bis alle Spreu entfernt ist.

Eine Solaranlage sorgt für Strom und Licht

Das Witwendorf grenzt an eine interkonfessionelle Flüchtlingssiedlung, die eine Hilfsorganisation für Überlebende des Boko-Haram-Terrors errichtet hat, Christen wie Muslime. Die Witwen im Dorf sind jedoch alle Christinnen. Eine Solaranlage pumpt sauberes Trinkwasser aus einem Brunnen und versorgt die Häuser der Frauen sowie ein Gästehaus mit Strom und elektrischem Licht. Roda war eine der Ersten, die vor knapp zwei Jahren in eines der einfachen grauen Lehmhäuser einzogen. Die 47-Jährige ist die Sprecherin der Witwen. Ihr Mann wurde vor drei Jahren von Boko Haram-Anhängern erschossen:
"Er war Polizist und nachts auf Streife. Am nächsten Tag kam Boko Haram noch mals in unser Dorf und hat auch noch einen meiner Söhne umgebracht."

Den Ehemann und den Sohn verloren

Roda kramt in einem großen Briefumschlag und holt mehrere Fotos heraus. Eines zeigt ihren toten Ehemann. Auf einem anderen Foto ist ihr Sohn zu sehen - mit einem Loch im Kopf:
"Ich bin über die Grenze nach Kamerun geflohen und von dort wieder zurück und hierhergekommen. Die anderen Witwen und ich treffen uns immer dann, wenn es ein Problem gibt. Wenn zum Beispiel eine Frau nicht genug Essen für ihre Kinder hat, bringen wir ihr einige Lebensmittel. Oder ein Kind ist krank. Dann legen wir Geld zusammen und bringen das Kind in die nächste Stadt in eine Klinik."
Im Flüchtlingscamp nebenan gibt es zwar eine kleine Krankenstation, gestiftet von der Schweizer Botschaft, doch weder ein Arzt noch eine Krankenschwester sind vor Ort. Renate Ellmenreich fände das bitter nötig:
"Gerade die Frauen, die alle mit ansehen mussten, wie ihre Männer geschlachtet wurden. Da äußert sich die seelische Not, die sie haben, das Trauma, in körperlichen Krankheiten. Sie bekommen Hautausschläge und Schmerzen überall und spucken Blut oder was auch immer. Ständig haben sie irgendwas."
Naomi und Asabe kochen gemeinsam im nigerianischen Dorf von Widows Care.
Naomi und Asabe kochen gemeinsam.© Rebecca Hillauer

Opfer von Zwangsverheiratung

Debora geht es im Vergleich dazu erstaunlich gut. Und dies, obwohl die 27-Jährige durch Boko Haram nicht nur ihren Mann verloren hat: Sie wurde von der Terrorgruppe in eines ihrer Lager verschleppt und dort gegen ihren Willen "verheiratet". Nach einem Monat konnte Debora fliehen, entdeckte dann aber, dass sie schwanger war. Luka, ihr Sohn, ist inzwischen 18 Monate alt. Er trinkt an ihrer Brust, während sie erzählt:
"Die Leute, denen ich meine Geschichte erzähle, sagen alle: 'Sie haben deinen Mann getötet, aber Gott hat dir einen Stellvertreter geschenkt.' Ich bin glücklich über meinen Sohn und habe noch nie negative Reaktionen erlebt - auch hier im Dorf nicht. Sogar meine Familie liebt ihn. Keinen Augenblick habe ich daran gedacht, die Schwangerschaft abzubrechen."
Renate Ellmenreich versteht die Probleme der Witwen nur zu gut. Vor 20 Jahren war sie, zusammen mit ihrem Mann, als Entwicklungshelferin in Nigeria – in jener Gegend, in der inzwischen Boko Haram sein Unwesen treibt. Als ihr Mann an einem tropischen Fieber stirbt, erfährt die deutsche Pastorin, was es heißt, in Nigeria Witwe zu sein: Sie wird sozial geächtet und darf die Arbeit nicht allein weiterführen. Schließlich kehrt sie nach Deutschland zurück.
Nach ihrer Pensionierung gründet sie 2014 mit neun anderen Pfarrerinnen aus Mainz den Verein Widows Care. Ziel ist es, Witwen Hilfe zur Selbsthilfe zu ermöglichen:
"Natürlich braucht das alles auch Zeit. Das sind ja ganz neue Lebensentwürfe für die Frauen. Und neben dem Horror, den sie zu verarbeiten haben, und dem Verlust eines Ehepartners, müssen sie jetzt auch noch lernen, in ihrem sozialen und ökonomischen Verhalten Neues auszuprobieren. Und die einen schaffen das besser und schneller – und die anderen haben damit Mühe."

Auf Kollekten und Spenden angewiesen

Finanziert werden die Projekte von Widows Care durch Kollekten und private Spenden. So mühsam die Umsetzung auch gelegentlich ist: Aufgeben ist für Renate Ellmenreich, die in der DDR in der Bürgerrechtsbewegung aktiv war, keine Option:
"Zu sehen, mit welchem neuen Lebensmut die Frauen da ans Aufbauen gegangen sind. Und mit welcher Lebensfreude die auch wieder genießen können, was es geworden ist: Das Positive verstärken - das finde ich die wichtigere Aufgabe."

Mehr über Renate Ellmenreichs Projekt erfahren Sie auf der Homepage des Vereins Widows Care.

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